Intern
    Pathologisches Institut

    Arbeitstisch

    Virchows Mikroskopier- und Schreibtisch

    Abgesehen von dem  sog. „Gartenpavillon“, seiner (umgebauten) Arbeitsstelle, sind von Virchows Gastspiel in Würzburg im wesentlichen nur zwei physikalische Relikte übrig geblieben: die Sektionsprotokolle und sein Arbeitstisch. Sie sind der Stolz des Instituts und werden wie Reliquien gehütet.

    Dass es sich bei dem dafür gehaltenen Schreib- und Arbeitstisch tatsächlich um Virchows handelt, lässt sich aus der Übereinstimmung der Beschreibung seines Arbeitstisches in zeitgenössischen Quellen mit dem heutigen Museumsstück schließen. Das Besondere an dem ca. 1,5 m breiten und 1 Meter tiefen Arbeitstisch ist das höhenverstellbare Mittelteil. Sein Mechanismus mit Zahnstange und Kurbel findet sich auch in vielen Apparaturen zur Wurstherstellung, vermutlich auch der Würzburger Metzger. Mit ihnen ist Virchow möglicherweise im Rahmen seiner Trichinenforschung in Kontakt gekommen.

    Die Höhenverstellbarkeit der mittleren Tischplatte erleichterte Virchow den Gebrauch des Mikroskops. In den zu seiner Zeit gängigen Modellen waren Objektträger, Objektiv, Tubus und Okular linear angeordnet und senkrecht ausgerichtet. Deswegen konnte man praktisch nur im Stehen mikroskopieren, indem man sich von oben über das Okular beugte, eine ziemlich mühsame  Angelegenheit, die garantiert Rückenschmerzen auslöste, insbesondere wenn man, wie Virchow, „mikroskopisch dachte“ und entsprechend täglich stundenlang mikroskopierte. Mit dem Mechanismus zur Höhenverstellung der mittleren Schreibtischfläche konnte er diese in eine optimale Position für seine unterdurchschnittliche Körpergroße bringen, wobei er beim Blick von oben in das Mikroskop den vorgebeugten Oberkörper mit durchgedrückten Armen auf  der Tischplatte abstützen konnte.

    Demselben Zweck diente auch die konkav ausgeschnittene Form der vorderen Arbeitstischkante. Das war aber noch längst nicht alles: Der Tisch war ein Multitalent. Durch Herunterkurbeln des Mittelstücks ließ er sich in einen ganz normalen Schreibtisch mit durchgehend ebener Oberfläche verwandeln.

    Entstanden sein dürfte der Arbeitstisch um 1850, d.h. zu Beginn von Virchows Tätigkeit in Würzburg (1849-1856), nach seiner speziellen Vorgabe das höhenverstellbare Mittelteil betreffend. Er hat also nicht, wie wir das heute zu tun pflegen, einen vorkonfektionierten Arbeitstisch gekauft, sondern sich von einem Schreiner eine Maßanfertigung nach eigenem Gusto machen lassen. Über den Auftragnehmer ist nichts sicheres bekannt. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass es sich dabei um Virchows 1. Vermieter handelt, den Schreiner Reppenbacher auf dem Grabenberg. Dieser dürfte sich Zahngestänge und Kurbel für das höhenverstellbare Mittelteil in einer Schlosserei besorgt haben, welche sich dank ihrer Metzgerkunden mit diesem ingeniösen Mechanismus auskannte. Über ihre Identität herrscht völlige Unklarheit.

    Der ca. 80 kg schwere Arbeitstisch präsentiert sich heute in einem abgenutzten, aber funktionsfähigen Zustand. Er besteht überwiegend aus furnierter Eiche, die beiden Seitenteile habe oben ausziehbare Schubladen aus Kiefer und unten eine Kammer mit Tür; selbst das höhenverstellbare Mittelteil funktioniert noch.

    Dass Schreiner Reppenbachers Auftragsarbeit fast 170 Jahre überlebte, ist ein außergewöhnlicher Glücksfall. Wie so vieles andere auch in Würzburg, wäre der Arbeitstisch am 16. März 1945 inmitten des von Brandbomben getroffenen Pathologieinstituts um ein Haar ein Opfer der Flammen geworden. Doch auch danach hing sein Schicksal zeitweise am seidenen Faden.

    Anfangs der über sein letztendliches Schicksal entscheidenden Jahre von 1965 bis 1975 befand sich der Tisch nach dessen eigener Erinnerung und Aussage in der Obhut des damaligen Institutsschreiners Hans Öchsner, zunächst in dessen Werkstatt als Ablage, vollgepackt mit „1000 Dingen“. Dem pragmatischen Handwerker gefiel das schäbige Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert so wenig, dass er es wegschmeißen bzw. „zusammenhauen“ wollte. Da man aber noch nicht in einer Wegwerfgesellschaft lebte, sondern weiterhin die Sparsamkeit der Nachkriegsjahre praktizierte (bis hinauf zum Institutsdirektor), blieb der Tisch erhalten. Dann wollte er ihn wenigstens aufhübschen, d.h. anstreichen. Doch aus wirtschaftlichen Erwägungen (zu viel Aufwand für altes Holz) sei auch dies unterblieben, so Öchsner.

    Die Werkstatt wurde ca. 1970 in ein Labor umfunktioniert. Damit begann für Virchows Schreibtisch eine Odyssee durch das ganze Gebäude. Weil man für ihn aufgrund seiner sonderbaren Konstruktion keine vernünftige Verwendung hatte (außer als Ablage), wurde er häufig umgestellt, vom Aufbahrungsraum im Tiefgeschoss bis zum Dachgeschoss (Öchsner sind fast 10 wechselnde Standorte erinnerlich).

    Erst Anfang der 70er Jahre habe sich das Bewusstsein für die antiquarische Kostbarkeit entwickelt, gefördert durch den Besuch von Filmteams aus Italien und Japan, die Virchows Tisch photographierten. Angesichts der Geringschätzung seines Eigentümers habe man sogar, so Öchsner, ein Kaufangebot unterbreitet. Glücklicherweise sei das abgelehnt worden, obwohl keine Behörde zum Schutz nationaler Kulturgüter intervenierte.

    Dagegen veranlasste das internationale Interesse an dem alten, zerschlissenen Arbeitstisch den Institutsdirektor Altmann zur Anordnung einer Restauration. Unter der Aufsicht des Oberarztes Klinge machte sich der Hausschreiner Öchsner 1974 an die Arbeit.

    Da die zentrale Platte weitgehend kaputt gewesen sei, habe er sie vollständig erneuern müssen. Ihren heute alt-ehrwürdigen Aspekt verdankt sie einer chemischen Behandlung nach Anweisung des aus England stammenden Institutschemikers Robin Wacker. Dagegen seien die Seitenteile in einem besseren Zustand gewesen und nur teilweise restauriert worden.

    Auf einen, seinem historischen Rang angemessenen Aufstellungsort musste der restaurierte Tisch, wie übrigens auch Virchows handgeschriebene Sektionsprotokolle, noch über 10 Jahre warten. Erst unter Müller-Hermelink, dem Vorgängen des aktuellen Institutsdirektors, erfolgte die Einrichtung eines Archivs mit der Virchow-Sammlung als Kernbestandteil.

    Dort hat der alte Arbeitstisch nach jahrzehntelanger Odyssee schließlich seine letzte Ruhestätte gefunden. Er erfreut sich allerdings nach wie vor bei Institutsbesuchern eines regen Interesses. Für viele von ihnen besteht der Höhepunkt ihrer Visite darin, an Virchows altem Schreibtisch auf einem Stuhl Platz zu nehmen und sich dort beim Blick durch ein modernes Mikroskop photographieren zu lassen, vermeintlich ganz so, wie es früher der alte Meister zu tun pflegte, als er seine epochale Erkenntnis „omnis cellula e cellula“ ausbrütete. Dieser hätte sich sicher gefreut, wenn er es auch so einfach gehabt hätte. Tatsächlich jedoch musste er stehen und sich vorbeugen, ein Umstand, den ihm sein Spezialschreibtisch erleichterte. Insofern sind die vermeintlich unvergesslichen Erinnerungsphotos so manch eines an Virchows fast 170 Jahre alten Mikroskopiertisch sitzenden Institutsbesuchers ein wenig irreführend. Dennoch ist es aus historischer Sicht befriedigend, den berühmten Tisch in vielen Photoalben verewigt zu wissen.